Grafikserie PARADOXA
Mit der offenen Grafikserie Paradoxa, die die Widersprüchlichkeit menschlichen Handelns aufs Korn nimmt, bezieht der Grafiker Philipp Langer Stellung zum Zeitgeschehen, z. B. zur
Reaktorkatastrophe in Fukushima, zur Euro- und zur aktuellen (2015/2016) Flüchtlingskrise, stellt ethisch-moralische Fragestellungen allgemeiner Art heraus und liefert Denkanstöße.
Mit der Verwendung einer leichtverständlichen Bildsprache beherzigt er eine goldene Regel unter Werbefachleuten: keep it simple and stupid. Gemeint ist damit – unter semiotischen,
wahrnehmungspsychologischen Aspekten –, dass eine Botschaft umso besser verstanden wird und umso mehr Menschen erreicht, je einfacher sie formuliert ist.
Typisch für die sozialkritischen Arbeiten sind plakative Symbolik sowie gegenständliche Typografie; Schriftzüge aus Blut, Metallgegenständen oder Häuserblocks. Die Paradoxa, d. h. die
Widersprüchlichkeiten, entstehen im Auge des Betrachters durch die inhaltlich gegensätzliche Kombination von Wort- und Bildsprache.
Erläuterungen zu den Motiven
Sofern es sich nicht um vorrangig allegorisch-symbolische Arbeiten, wie z. B. Freiheit?, Liebe? oder Eurokrise handelt, sollten die Motive bestenfalls selbsterklärend
sein und sich dem Betrachter schnell erschließen.
Frieden?
Frieden schaffen ohne Waffen – so lautete ein Slogan der Friedensbewegung der 1980er Jahre. Damals herrschte der sog. Kalte Krieg zwischen den beiden größten atomaren Supermächten und
ihren Verbündeten. Sie hatten derart gigantische Waffenarsenale angehäuft, dass es für ein mehrfaches Auslöschen der gesamten Menschheit gereicht hätte (sog. nuklearer Overkill).
Si vis pacem, para bellum (lat. = Willst du Frieden, so rüste dich für den Krieg). Diese Weisheit eines Geschichtsschreibers bzw. Kriegsherrn der Antike, aus einer Zeit vor etwa 2000
Jahren, hat an Aktualität bis heute nichts eingebüßt.
Gerechtigkeit?
Diese Fast-schon-Plattitüde, wenn man so will, ist ein nicht hundertprozentig gelungener Versuch, die Anhäufung von Kapital in den Überfluss- und Wegwerfgesellschaften der Armut in anderen
Teilen der Welt gegenüberzustellen. Dass es Zusammenhänge zwischen beiden gibt – Stichwort Klimawandel, Wirtschafts- und Außenpolitik, Protektionismus – ist unbestritten. Der formale Fehler
besteht – Muttersprachlern wird es sofort auffallen – in der falschen Silbentrennung. Der Schriftzug könnte missverständlich als „just ice“ interpretiert werden, was so viel bedeutet wie „einfach
(nur) Eis“ oder „Eis eben (nur)“.
Unschuld?
Coltan (Columbit-Tantalit) ist ein Erz, das über Tage in Erdlöchern abgebaut wird. Aus ihm wird Tantal gewonnen, ein Metall, das für die Produktion von Mikroelektronik benötigt wird. Mit der
rasanten Entwicklung und Verbreitung tragbarer Kommunikationsgeräte (Handys, Smartphones, Laptops, Notebooks, Tablets, Navis, Digitalkameras etc.) steigt der weltweite Bedarf an Tantal bzw.
Coltan. Recycling spielt wegen der niedrigen Rohstoffpreise bislang keine wesentliche Rolle.
Ein erheblicher Anteil des Coltans stammt aus sog. Dritte-Welt-Ländern. Lokale Milizionäre in Afrika sowie Drogenbarone in Mittel- und Südamerika kontrollieren illegale Minen, in denen unter
menschenunwürdigen Bedingungen auch Kinder mit Schaufeln und Hacken das giftige Erz aus offenen Gruben kratzen. Bauern aus der Umgebung vernachlässigen ihre Felder und lassen sich vom Geld
locken, das die Arbeit in den Minen verspricht. Es gibt keinerlei Arbeits- oder ökologische Standards. Tödliche Unfälle sind an der Tagesordnung. Die Umwelt wird vergiftet, Chemikalien dringen
ins Grundwasser ein.
Besonders tragisch ist die Situation in Zentralafrika (Kongo u. a.), wo sich viele Minenarbeiter von sog. Buschfleisch ernähren, d. h. von illegal erlegten, geschützten Wildtieren. Diese Wilderei
hat die lokalen Gorilla- und Schimpansen-Populationen an den Rand der Ausrottung gedrängt.
Die Herkunft des Tantals wird von den Erz verarbeitenden Industrien durch Mischung verschiedener Chargen zum Teil verschleiert. Bisher haben sich wenige Nationen bzw. Produzenten von mobilen
Kommunikationsgeräten ernsthaft darum bemüht, auf „blutiges Coltan“ zu verzichten.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass man mit dem Erwerb eines Mobiltelefons indirekt kriminelle Banden oder gar Bürgerkriege unterstützt und die Ausrottung der letzten Berggorillas
vorantreibt. Unschuld? wirft die Frage auf, inwieweit dem über die Medien aufgeklärten Erste-Welt-Konsumenten eine moralische Verantwortung für derartige Missstände anzutragen ist. Wer
sonst als der Konsument hätte im global agierenden Neoliberalismus, im neuzeitlichen Merkantilismus, wo vieles nach Angebot und Nachfrage entschieden wird, das Potenzial, die Dinge zu
verändern?
Man könnte argumentativ noch einen Schritt weitergehen und einen Zusammenhang herstellen zwischen illegalem Bergbau, nicht vorhandener lokaler Infrastruktur (Verhüttung, weiterverarbeitende
Industrie), mangelndem Bildungs- und Arbeitsplatzangebot und Wirtschaftsflüchtlingen. Oder zwischen dem illegalem Bergbau der Warlords in der Demokratischen Republik Kongo und der zunehmenden
Militarisierung regionaler Konflikte, bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, was ebenso Flüchtlingsströme hervorruft. Das eine bedingt das andere...
Coltan ist nur ein Beispiel von vielen. Wer andere mit provokativen, unangenehmen Fragen konfrontiert, wie sie in der Grafikserie Paradoxa thematisiert werden, muss sich nicht selten
die Gegenfrage anhören „Wo soll man da anfangen?“ oder „Was kann der Einzelne schon bewirken?“ – Verlegene Ausflüchte, die die eigene Gleichgültigkeit und Hilflosigkeit zu kaschieren
versuchen.
(Die in der Künstlervita erwähnte, kleine Berliner Bürgerinitiative war immerhin dazu in der Lage, durch nachhaltige Öffentlichkeitsarbeit und Gerichtsprozesse die Presse auf ihre Seite zu
bekommen und eine Kettenreaktion auszulösen, in deren Folge eine bis Mitte der 1980er Jahre häufig verwendete Chemikalie, Perchlorethylen / Tetrachlorethen, als kanzerogenes Lösungsmittel
eingestuft und weitgehend aus dem Alltag verbannt wurde.)
In Nomine Patris
„Im Namen des Vaters“ steht am Beginn des letzten Satzes des Vater-unser-Gebets. Das Bild ist als zynischer Beitrag zu verstehen zur momentanen, öffentlich geführten Debatte, inwieweit Gewalt
gegen „Ungläubige“ in den Urschriften von Weltreligionen propagiert wird und inwiefern solche Gebote den weltweit zunehmenden religiösen Fanatismus (sog. Fundamentalismus) mit all seinen
tragischen Auswirkungen mit erklären können.
Dabei ist wahrscheinlich nicht erst seit den Eroberungszügen der spanisch-portugiesischen Conquistadores, die im 16. und 17. Jahrhundert in Mittel- und Südamerika einfielen und unter dem
Deckmantel der Christianisierung, der Bekehrung zum „rechten Glauben“, ganze Ethnien auslöschten*, offensichtlich, dass territoriale Besitzansprüche, Bodenschätze und andere Ressourcen die
wahren, ganz profanen Beweggründe für vorgeblich religiös motivierte Gewalttaten sind.
Das Paradoxe dabei ist, dass solches Handeln – zumindest im Fall des Christentums – den Heilslehren der Religionsstifter diametral entgegensteht. „Du sollst nicht töten!“, „Du sollst nicht
begehren deines Nächsten Hab und Gut!“, „Du sollst nicht stehlen!“ (aus den Zehn Geboten, AT). Oder: „Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert fallen.“ (Jesus von Nazareth, NT).
* Von den europäischen Eroberern eingeschleppte Infektionskrankheiten taten ein übriges.
Elektrozaun
Nun, da die Welle, die Neokolonialismus, Neoimperialismus und Raubtierkapitalismus (Sozialdarvinismus) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit auslösten und noch weiter antreiben, (auch) auf
den europäischen Kontinent zurückschwappt, werden Rufe nach Grenzsicherung, nach Abschottung und Einwanderungskontingenten laut. Rechtspopulisten und Nationalkonservative gewinnen an Einfluss
und Macht, stellen politische und soziale Standards infrage. Braune Demagogen gewinnen an Zulauf. Sie schüren Fremdenhass und Ängste vor dem Verlust von Wohlstand und soziokultureller
Identität. Stacheldrahtzäune werden errichtet, Fluchtwege abgeschnitten, Flüchtlinge in Lagern interniert, Asylantenheime in Brand gesteckt. Das Mittelmeer und Europas südliche Küstengewässer
sind zur Todeszone verkommen, in der jährlich Tausende Hilfesuchende ihr Leben verlieren.
Wo sind sie geblieben, die christlich-humanistischen Grundwerte, auf die sich das zivilisierte, fortschrittliche „Abendland“ so vehement beruft? (Der Fairness halber ist hier anzumerken, dass
sich die einzelnen Staaten in der Sache mitunter ganz unterschiedlich verhalten.)
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